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OVERTWIST – eine Betrachtung mit Augen und Ohren

von Georg Graewe

to overtwist -
(engl) to twist excessively | (dt) überdrehen

We're gonna twisty twisty twisty till we tear the house down
- The Twist, Chubby Checker, 1960

"Calling Gerry Hemingway a drummer is a bit like calling Anthony Braxton a saxophonist or Miles Davis a trumpeter. The statement is accurate, but also grievously incomplete. Hemingway is, ....., an artist who deals with sound, process and ideas on a variety of levels." schrieb der amerikanische Kritiker Bill Meyer im Downbeat Magazine vor einiger Zeit (1). Damit verweist er nicht nur auf Hemingways vielschichtige Aktivitäten als Instrumentalist, Komponist und Bandleader sondern auch auf dessen künstlerischen Rang im musikhistorischen Kontext der letzten Jahrzehnte. Denn wie kaum ein anderer hat Hemingway spätestens seit den frühen 80er Jahren die Möglichkeiten des Schlagzeugspiels nicht nur erweitert, sondern grundlegend redefiniert - sei es als Solist oder in unterschiedlichen Formationen, am prominentesten vielleicht während seiner Zeit im legendären Anthony Braxton Quartett (1983 -94), aber auch in seiner langjährigen Zusammenarbeit mit dem New Yorker Elektronikvisionär Earl Howard.

Nun sitzt er in einer Projektion der Schweizer Künstlerin Karin Leuenberger, nicht von ungefähr und keineswegs unvorbereitet. Hemingway - erfahren in der Zusammenarbeit mit den visuellen Künsten - sieht sich hier als composer/performer zum ersten Mal einer Videoarbeit gegenüber, die sich in unterschiedlichen Abstufungen und in insgesamt 9 Kapiteln mit seiner Person befasst.

"Im Mittelpunkt von "Overtwist" steht der Schlagzeuger Gerry Hemingway - seine Persönlichkeit, die sich in den mannigfaltigen Bewegungs - und Ausdrucksformen seines Spiels ausdrückt. Dessen Expressivität mittels abstrakter Bilder in einen atmosphärischen Raum zu transportieren, ist der wesentliche Aspekt dieser Aufführung" schreibt Karin Leuenberger in ihrem Begleittext.

Dem Projekt vorausgegangen sind Gespräche, Beobachtungen, Entwürfe, auch schriftliche Korrespondenzen zwischen Leuenberger und Hemingway über einen längeren Zeitraum, begleitet sowohl von Zweifeln als auch Ergebnissen. Aus diesem Prozess der Auseinandersetzung haben sich die bildlichen wie auch die klanglichen Verläufe der einzelnen Kapitel - ähnlich einer chemischen Reaktion – herausgebildet.

„Die Videos sind entstanden, nachdem ich mich intensiv mit Gerrys Musik und speziell seiner Art von Performance beschäftigt hatte. Wir haben dann dialogisch das jeweilige Instrumentarium, den Verlauf, sowie den musikalischen Gestus der einzelnen Kapitel festgelegt. Die Videos sind vorproduziert und der Ablauf liegt fest. Innerhalb dieses Rahmens kann sich Gerry dann bei jeder Aufführung gestalterisch relativ frei bewegen“ erläutert Karin Leuenberger die Genese des Projekts.

Man mag hier, durchaus begründet, die Videos als eine Art graphische Partitur auffassen, die der Solist zu interpretieren hat - eine Partitur allerdings, die gleichzeitig als ein Portrait der eigenen Person angesehen werden kann. So kommt der Solist Hemingway in die irritierende Lage, sich mit dem künstlerischen Bildnis seiner selbst konfrontiert zu sehen. Ein Dorian Gray des zeitgenössischen Schlagzeugspiels etwa? Das würde sicherlich zu weit führen, aber der Blick in den Spiegel hat immer etwas Unheimliches. Jean Cocteau zeigt den Spiegel als das Tor zum Jenseits (2), bei Lewis Carroll jedoch gelangt man ins Wunderland (3).

Hinter den Spiegeln

„Jetzt begann ich allmählich, das unerhörte Farben- und Formenspiel zu geniessen, das hinter meinen geschlossenen Augen andauerte. Kaleidoskopartig sich verändernd drangen bunte phantastische Gebilde auf mich ein, in Kreisen und Spiralen sich öffnend und wieder schliessend, in Farbfontänen zersprühend, sich neu ordnend und kreuzend, in ständigem Fluss..“ – Albert Hofmann: Protokoll des LSD-Selbstversuchs.

Die Sehnsucht nach der Vermischung der Sinneswahrnehmungen ist eine zutiefst romantische. „Alle Schranken sind bloß des Übersteigens wegen da“ konstatiert Novalis in seinen Fragmenten - Transgression als Programm.

Echte Synästhesie hingegen ist ein Phänomen, das sich unter gewissen Umständen und individuell unterschiedlich ausgeprägt einstellt, mit oder ohne Drogen. Als Grundierung der Kollaboration der Künste taugt sie kaum. Und tatsächlich mag man auch nicht ständig über jeden Zaun steigen.

Lösen Bilder Töne aus oder rufen Töne Bilder hervor? Haben Bilder einen spezifischen Klang? Klingt es in Bildern? Ja, sicher – in unterschiedlicher Intensität und je nach individueller Disposition und mentalem Zustand. Viele Künstler lassen sich vorzugsweise durch andere Künste inspirieren. Musik – Malerei – Dichtung bilden seit je eine Art menage-a-trois mit mal mehr, mal weniger glücklichem Ausgang. Hilfreich ist hier zweifellos auch ein gewisses Nicht-Verstehen des anderen Bereichs. Das Rätselhafte beflügelt die Fantasie. Und das produktive Missverständnis ist eine Chance, die durch blosses Harmoniestreben vereitelt würde.

Zufällige Hemmung
oder was haben Bild und Klang miteinander zu schaffen?

"Bewegung liegt allem Werden zugrunde. (...) Ruhe auf Erden ist zufällige Hemmung der Materie."

- Paul Klee: Schöpferische Konfession, Berlin 1920

Selbstverständlich sind sich Paul Klee und Gerry Hemingway in dieser Welt nie begegnet, dennoch erscheint der Schlagzeuger geradezu als Verkörperung dieser Sentenz des - ausgeprägt musikalischen - bildnerischen Denkers aus Bern. Die Auffassung von Bewegung als Grundkategorie ermöglicht die Konvergenz von Bild und Musik. Die visuellen und akustischen Schwingungen geraten in ein Wechselspiel, Bild und Ton beleuchten sich gegenseitig und laufen nebeneinander, miteinander oder gegeneinander. "In ihrem Gegensatz gehen die Künste ineinander über" schreibt Adorno (4).

Eduard Hanslicks berühmte Definition von Musik als "tönend bewegte Formen" (5) korrespondiert auffallend mit den "bildlich bewegten Formen" in Karin Leuenbergers Videosequenzen. Aber es geht hier nicht um Nachahmung einer Kunst durch die andere im Sinne des von Adorno geprägten (negativ konnotierten) Begriffs von "Pseudomorphose", sondern um ästhetische Spannungsfelder der beidseitig ins Spiel gebrachten Elemente.

„Anreihung, Durchdringung, und Verschachtelung“ (Paul Klee) von Formen und Farben, von Klängen und Intensitäten erscheinen und entschwinden in differenzierten, mehrfach überlagerten Tempofeldern. Die entstehenden Muster und Strukturen verhalten sich

zueinander in kontrapunktischen Bewegungsverläufen und statistischen Verhältnissen von Dichte und Dauer.

Aber nun zurück auf die Bühne ...

...wo wir noch immer den Schlagzeuger Gerry Hemingway antreffen: äusserst geschäftig inmitten seines Instrumentariums, zentral positioniert in der Videoprojektion von Karin Leuenberger, befasst mit sich selbst im buchstäblichen Sinne.
Die Videosequenzen kommen sehr farbig, sehr bewegt daher, bisweilen mit psychedelischer Anmutung, häufig auch mit deutlichem Einschlag ins Graphische. Dabei sind sie fast durchwegs aus realen Objekten (z.B. Trinkglas, Platinen, Wiesenblumen) hergeleitet: digital transformiert zwar, aber nicht elektronisch generiert. Titel wie „spider board“, „flower meadow“ oder "water glass“ deuten darauf hin. Im letzten Kapitel („dissolution“) entlädt sich der Abend in einer Montage aus Kohlezeichnungen und Videosequenzen in slow motion, wobei nun freilich der abstrakteste Titel aufs gegenständlichste kontrapunktiert ist. Wir erleben, wie die Kollision der Materialitäten von Musik und Video faszinierende Wahrnehmungsfelder eröffnet.

“Eine vollkommene Ordnung wäre der Ruin allen Fortschritts und Vergnügens " räsonierte Robert Musil im letzten Jahrhundert. In diesem Sinne wäre OVERTWIST als ein gelungen- überdrehtes Beispiel fortschrittlichen Vergnügens anzusehen.

1) Downbeat, Rezension „Kernelings“ (DVD) Ausgabe 06/2014,
2) Jean Cocteau: Orphée, 1949
3) Lewis Carroll: Trough The Looking-Glass, 1872
4) Theodor W. Adorno, Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei, 1967
5) Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, 1854

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